Welche Bedeutung haben Verantwortungsbewusstsein und Treue in der Polyamorie?


Polyamorie Verantwortung

Der einzige Weg ihrer Bedeutung in einer polyamoren Beziehung gerecht zu werden ist: Wir versuchen, kein Arschloch zu sein ;-) 

Was nicht immer klappen wird.  Aber schon allein durch das Bemühen kann ich meinen Partner*innen die Sicherheit geben, dass ich Ihnen nicht bewusst schaden würde.


Verantwortung für die eigenen Entscheidungen übernehmen

Dabei geht es als erstes, um die grundsätzliche Entscheidung für die polyamore Beziehung mit all ihren Vor-und Nachteilen:

Ich habe mich für diese Art der Beziehungsführung entschieden, also trage ich auch die Schwierigkeiten und Konsequenzen mit, die das Konzept beinhaltet. 

Wenn wir uns nur dafür entscheiden, das Konzept „zu ertragen“, damit wir ihn*sie, die Beziehung „behalten“ können, schieben wir alle Verantwortung von uns. Unser*e Partner*in kommt so in eine Art „Hamsterrad-Situation“, in der er*sie permanent dafür sorgen muss, dass es uns gut geht. Sonst muss die Person Angst haben, dass sie uns verliert – das Gegenteil von Sicherheit! Unsere Partner*innen sollten das Gefühl haben, dass wir auch dann zu der Beziehung stehen, wenn es für uns mal schwierig wird. Sie sollten nicht das Gefühl haben, immer funktionieren zu müssen, nie einen Fehler machen zu dürfen und für all das allein verantwortlich zu sein. 

Alle Beteiligten sind am Funktionieren der Beziehung beteiligt (nicht nur der, der das Konzept vorgeschlagen hat oder darin schon länger lebt). Es wird nur funktionieren, wenn wir unseren Teil der Verantwortung darin übernehmen - keiner zwingt uns polyamor zu leben, wir haben uns dafür entschieden!


Zum anderen geht es um die Entscheidungen, die innerhalb einer polyamoren Beziehung zu treffen sind:

Eines der schwierigsten und frustrierendsten Dinge, denen ich in der Beratung polyamorer Beziehungen begegne, ist die Unfähigkeit und oft auch der fehlende Wille, die Beziehungarbeit der eigenen Beziehungen zu übernehmen. Häufig wird die Beziehungsarbeit der einen Beziehung in die andere ausgelagert:

Typisches Beispiel:

 

"Du musst schon verstehen, dass ich unseren Termin nicht einhalten kann, X ist gerade in einer schwierigen Phase und will mich in ihrer Nähe haben." 

 

Nein! Du entscheidest - nicht Deine X-  wie und mit wem Du Deine Zeit verbringen möchtest, aus welchen Gründen auch immer. Besonders wichtig ist es, diese Verantwortung in Situationen zu übernehmen, in der Deine Entscheidung andere Partner*innen enttäuscht (weil Du, zum Beispiel, eine Verabredung nicht einhältst o.ä.). 

 

ICH sage unsere Verabredung ab, weil ICH lieber bei ihr bleiben möchte. Ich würde mich freuen, wenn Du das verstehen könntest.“

Wird eine andere Person (Metamour) mit ihren Bedürfnissen vorgeschoben, hat Deine Partnerin, Dein Partner keinerlei Einflussmöglichkeiten auf diese Entscheidung und fühlt sich einer Person außerhalb der eigenen Beziehung hilflos ausgeliefert – so entsteht Unsicherheit und Frustration. 

Wir müssen bereit sein, Entscheidungen zu treffen und dazu zu stehen. Nur so können unsere Beziehungsmenschen mit uns auf Augenhöhe sprechen und unsere Entscheidungen hinterfragen. Außerdem wissen wir dadurch, dass er*sie auch in der Lage ist, seine*ihre Entscheidungen nach außen zu vertreten (ggf. auch solche, die wiederum unseren Bedürfnissen, aber nicht denen eines anderen Partners entsprechen). Wir können uns darauf verlassen, dass es eben eigene Wünsche/ Bedürfnisse/ Entscheidungen sind und nicht die einer anderen Person.

Das schafft Vertrauen und Verlässlichkeit!



Verantwortung für die Gesamtkonstellation

Unsere Handlungen und Entscheidungen sollten in einer polyamoren Beziehung immer den Blick auf die gesamte Beziehungskonstellation beinhalten. Eine polyamore Beziehung, in der die Beteiligten gegeneinander arbeiten, wird nicht funktionieren.

Natürlich sind die eigenen Wünsche und Bedürfnisse wichtig, aber das Verständnis für die Situation in einer anderen Beziehung der Konstellation, sollte dabei nicht aus den Augen verloren werden. Wenn das Gefühl vorherrscht, alle Partner*innen unterstützen im Grunde auch das Vorhandensein der anderen Beziehungen, kann Vertrauen entstehen, dass es bei der Äußerung von Bedürfnissen nicht darum geht, andere Beziehungen zu übervorteilen.  

Dazu gehört es Verständnis aufzubringen für:

  • persönlichkeits- oder charakterbedingte Unterschiede in den Beziehungsprioritäten
  • Probleme, Ängste und Schwierigkeiten von Metamours
  • unterschiedliche Schwerpunkte und Entwicklungsgeschwindigkeiten in den Parallelbeziehungen

Auch wenn ich die Beziehung meine*r Liebsten zu anderen Personen vielleicht nicht immer verstehen kann, sollte ich doch die Sicherheit geben können, dass ich sie respektiere. Wenn es anstrengend und unangenehm wird, ist nicht die erste Reaktion, die andere Beziehung  dafür verantwortlich zu machen, sondern zu schauen, was ich dazu beitragen kann, eine Lösung zu finden, die allen gerecht wird. 


Regeln und Absprachen einhalten

Dies ist meiner Ansicht nach einer der Treue-Aspekte in polyamoren Beziehungen. 

Jede Beziehung hat Regeln – implizite und explizite. Ein großer Teil des Vertrauens in eine Beziehung, hängt davon ab, wie sehr ich mich darauf verlassen kann, dass diese Regeln eingehalten werden. Man muss keine expliziten Regeln ausmachen, aber hat man solche in einer seiner Beziehungen festgelegt, sollte man sich so lange daran halten, bis man sie gemeinsam ändert – auch wenn dies vielleicht manchmal schwer fällt. Spürst Du das Vorhandensein impliziter Regeln, die Du nicht einhalten kannst oder willst, dann sprich sie besser an, als sie mit der Ausrede, zu umgehen "wir haben ja nichts explizites besprochen".   

Ich habe die Erfahrungen gemacht, dass Regelbrüche in polyamoren Beziehungen (auch in offenen Beziehungen) die gleichen verheerenden Auswirkungen auf das Vertrauen haben können, wie das „Fremdgehen“ in monogamen Beziehungen (was eigentlich auch nur das Brechen einer impliziten Beziehungsregel darstellt). 


Ehrlichkeit...

...gegenüber potentiellen Partner*innen

Das fängt schon ganz am Anfang an: Was erwartest Du Dir z.B. von einer neu entstehenden Beziehung? Welchen Platz kann eine neue Person in Deinem Leben einnehmen? Welche Grenzen und Schwierigkeiten gibt es?  

  • Wie sieht eine polyamore Beziehung mit Dir aus?
  • Ist sie hierarchisch oder egalitär aufgebaut? Warum?
  • Was bedeutet es für jemanden, Deine "Sekundärbeziehung" zu sein?
  • Oder willst Du unabhängig leben und Deine Partner*innen ganz unabhängig voneinander treffen (Solo- Polyamorie)? Was bedeutet das für die Personen, die mit Dir in Beziehung sind?

Es ist vollkommen in Ordnung all das nicht zu wissen. Auf der anderen Seite ist es aber wichtig, sich über die eigene Unsicherheit im Klaren zu sein und es eben genauso an seine (potentiellen) Partner*innen kommunizieren zu können, auch wenn ihnen dies nicht gefallen wird. 

Viele Menschen haben Angst, neuen Personen (vor allem Menschen aus dem monogamen Umfeld) ehrlich gegenüber zu treten, weil sie befürchten, die Person dadurch abzuschrecken, sich auf eine Beziehung oder auch nur ein weiteres Kennenlernen einzulassen.

 

Das kann natürlich passieren. Aber ist es nicht auch das gute Recht dieser Person, diese Entscheidung so zu treffen? Ich möchte ehrlich gesagt auch nicht unter einem Vorwand in eine monogame Beziehung gelockt werden... ;-) Es wäre eine egoistische Manipulation, die unterstellt, dass die Person keine rationale Entscheidung in dieser Hinsicht treffen kann und ist am Ende mit Enttäuschung verbunden, dass die Person ihre Beziehungsvorstellungen mit uns nicht verwirklichen kann. Was nützt es, wenn ich jemanden an mich gebunden habe, der mit meinen Beziehungsvorstellungen nicht übereinstimmt? In vielen Fällen bringt eine solche "vorsichtige Unehrlichkeit" nicht nur Probleme in die neue Beziehung, sondern auch Unsicherheit für die bestehenden Partner*innen mit sich, wenn nicht für etablierte Regeln und Absprachen nach außen hin eingestanden wird.

... gegenüber bestehenden Partnerschaften

Ein weiterer Punkt ist die Ehrlichkeit gegenüber bestehenden Partner*innen über Veränderungen der eigenen Gefühlssituation oder der Beziehungsvorstellungen. Es ist wichtig, unsere Partner*innen von Anfang an bei den eigenen Entwicklungen mitzunehmen, damit sie: 

  • diesbezüglich ihre eigenen Entscheidungen treffen können
  • zum Ausdruck bringen können, wenn sie Probleme haben und was ihre Vorstellungen und Wünsche in der neuen Situation sind
  • einbezogen werden 
  • sich parallel mitentwickeln können 

Solche Situationen sind zum Beispiel: 

  • Verlieben
  • Veränderungen der Beziehungsstruktur (Umwandlung egalitärer Polyamorie in eine hierarchische Poly-Beziehung),
  • Intensivierung von Beziehungen
  • Kinderwunsch
  • Veränderungen der Wohnsituation
  • Bekanntschaft potentieller neuer Beziehungspersonen

Dabei ist es, meiner Erfahrung nach, am Besten, Partner*innen schon an der Entstehung eines Veränderungswunsches teilhaben zu lassen. So haben sie von Anfang an die Möglichkeit Unverstandenes nachzufragen, sich ihre eigenen Gedanken dazu zu machen, diese mit uns zu teilen und sich so irgendwie "einflussreich" und nicht außen vor bzw. "nur betroffen" zu fühlen. Dies ist essentiell für ein Gefühl der Sicherheit in einer sich verändernden, unberechenbaren Situation.

All das sind in den meisten Fällen keine angenehmen Gespräche, aber sie bewahren uns und unsere Partner*innen vor Vertrauensverlusten und Unsicherheiten, die meist viel negativer und nachhaltiger auf die Beziehung einwirken.