Es soll in diesem Bereich vor allem um polyamore Beziehungen gehen und weniger um das Gesamtkonzept der Polyamorie. Da ich hier lediglich meinen ganz persönlichen Zugang zu dem Thema Polyamorie darstelle, möchte ich daher für eine sehr gute und ausführliche Polyamorie - Definition z.B. auf Wikipedia verweisen.
weitere Artikel zum Thema Polyamorie:
Die Übersetzung des Kunstwortes "Polyamorie" bedeutet eigentlich nur "Vielliebe", was für mich impliziert, dass es eben darum geht, in der Lage zu sein "mehr als einen Menschen zu lieben". Ich unterscheide daher zwischen polyamor lebenden, fühlenden Menschen und einer polyamoren Beziehungsführung. Polyamor fühlt aus meiner Sicht einfach jede Person, die mehreren Individuen zur gleichen Zeit Liebe/Zuneigung oder ähnliche (Bindungs-)Emotionen entgegenbringt.
Überzeugungen, die implizieren, man wäre nur "Poly" wenn diese oder jene Kriterien erfüllt werden, teile ich grundsätzlich nicht. Ich würde sogar behaupten, dass auch monoamor veranlagte Menschen polyamorös fühlen können und vice versa. Dagegen gehören zu einer polyamoren Beziehungsführung einige Kriterien dazu, die eben diese Art, eine Beziehung zu leben, ausmachen. Wie in einer monogamen Beziehung auch, kann man sich auf die Einhaltung dieser Kriterien berufen bzw. daran arbeiten.
Hierzu kann man in der einschlägigen Literatur, Blogs und Foren sehr viele unterschiedliche Meinungen finden. Ich möchte an dieser Stelle die Merkmale einer polyamoren Beziehung nennen, die ich als essentiell erachte:
Dies bedeutet, dass es nicht nur eine Absprache zwischen 2 Partnern gibt, die regelt, wie Kontakte zu weiteren Sexual- und/oder Liebespartnern gelebt werden, sondern dass jede einzelne Beziehung innerhalb der Konstellation weiß, welcher Art die anderen Beziehungen sind und um wen es sich im Einzelfall handelt.
Ich denke, dass eine polyamore Beziehung auf Zwang nicht funktionieren kann. Konstrukte, die auf "Friss oder Stirb Mechanismen" (also: wenn Du meinen anderen Partner nicht akzeptierst, dann verlasse ich Dich) beruhen, sehe ich nicht als polyamore Beziehungen an. Was wiederum aber nicht bedeutet, dass es allen Beteiligten leicht fallen muss, polyamor zu leben.
Egal, ob es sich um ein hierarchisches oder egalitäres Modell der polyamoren Beziehung handelt, sollten alle Beziehungen die Möglichkeit haben, sich weiterzuentwickeln. Alle an der Beziehungskonstellation Beteiligten sollten sich einig sein, dass das Glück und die Zufriedenheit der anderen Beteiligten und der angrenzenden Beziehungen zu fördern ist.
Unabhängig von diesen 3 Merkmalen kann man nicht von der teilweisen Unfähigkeit, diese Ideale immer einzuhalten, darauf schließen, dass es sich nicht um eine Poly-Beziehung handelt. Wie auch im monogamen Kontext, Affären oder Fremdgehen aus einer monogamen Beziehung keine nicht-monogame Beziehung machen.
Metamour:
Bezeichnung für weitere Partner eines unserer Partner z.B. die Freundin des Ehemannes
hierarchische Polyamorie: Beziehungskonstellationen, in denen es eine oder mehrere (ausgesprochene) Hauptbeziehung(en) mit definierten Privilegien gegenüber vorhandenden Zweitbeziehungen gibt
egalitäre Polyamorie:
Beziehungskonstellationen, mit dem Bestreben, dass alle Beziehungen gleichwertig sind
Mitfreude: ehrliches Gefühl des Gönnens und des erlebten Glücks über (sexuelle/ emotionale) Erlebnisse/ Entwicklungen/ Momente eines Partners mit einem anderen Menschen
Solo-Polyamorie:
Polyamorie-Konzept, in dem das eigene Leben so unabhängig, wie möglich von den Partnern gestaltet wird. Solo-Polys sehen sich auch innerhalb einer Partnerschaft stark als Individuum an und schützen ihre Unabhängigkeit, z.B. dadurch, nicht mit einem oder mehreren Partnern zusammenzuziehen oder ihre Finanzen getrennt zu halten. Sie bezeichnen sich selten als Teil eines "Paares" oder einer "Triade".
Letztendlich sollte das Ziel aller Beziehungsmodelle, egal ob monoamor/monogam oder nicht-monogam, sein, dass sich die beteiligten Personen in der Beziehungskonstellation - auch trotz vorhandener Schwierigkeiten - insgesamt wohl und zufrieden fühlen.
Ich gehe an dieser Stelle bewusst weniger auf "in der Persönlichkeit" liegende Eigenschaften ein. Eine persönlichkeitsorientierte Betrachtung, die Menschen per se aufgrund ihrer Eigenschaften (z.B. ängstlich, eifersüchtig, unkommunikativ...) aus einem Beziehungsmodell ausschließt, lehne ich grundsätzlich ab. Ich glaube zwar, dass wir durch Prägungen und Erlebnisse in unseren Familien oder unseren Beziehungen vielleicht für das ein oder andere Beziehungsmodell besser geeignet sind, finde aber nicht, dass Menschen aufgrund irgendwelcher Eigenschaften nicht "fähig" wären, polyamor zu leben.
Trotzdem stellt eine polyamore Beziehung für die meisten Menschen eine große Entwicklungsaufgabe dar:
Ich versuche an dieser Stelle Entwicklungsgebiete abzustecken, die das Gelingen einer polyamoren Beziehung fördern können. Dabei sehe ich die unten näher beschriebenen Themen als besonders wichtig an. Diese sind zusammengestellt aus:
Also eine ganz individuelle Auswahl, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt!
Eine polyamore Beziehung ermöglicht Menschen, die nicht-monogam leben wollen (oder können), und ihren Partner*innen eine langfristige Art der Beziehungsführung, die ohne Betrug oder Selbstverleugnung auskommt. Polyamore Beziehungen können damit diesen Menschen im Idealfall mehr Lebensglück als andere Beziehungsformen bieten. Poly-Beziehungen sind aber auch größtenteils sehr komplex, unterliegen vielen Veränderungen und verlangen ein hohes Maß an Beziehungsarbeit! Polyamor zu leben ist eben kein Ideal, dass es zu erreichen gilt, sondern eine Art Beziehungen zu leben, neben vielen anderen.
Natürlich ist eine gute Kommunikation in jeder Beziehungform förderlich. Nur sind die Ansprüche an die Kommunikation in einer polyamoren Beziehung doch noch etwas größer. Denn zum einen haben mehr Menschen mit ihren ganz eigenen Motiven, Gefühlen, Ängsten und Grenzen Einfluss auf zu treffende Entscheidungen. Und zum anderen betreffen wiederum getroffene Entscheidungen oder Gegebenheiten mehr Menschen und haben Auswirkungen auf sie, ihr Leben und ihre Gefühle.
Die ausgiebige Beschäftigung mit uns selbst ist aus mehreren Gesichtspunkten heraus wichtig für die eigene Zufriedenheit in einer polyamoren Beziehung:
Wie können wir mit anderen Mitteln als einer versprochenen Exklusivität Sicherheit und Verlässlichkeit schaffen?
In einer polyamoren Konstellation kann ich nicht schwören, geschweige denn gewährleisten, dass ich "immer für einen der Partner in jeder Situation da sein kann". Es können Situationen auftreten, in denen meine Partner gegenläufige Bedürfnisse haben, die aber jeweils genauso wichtig sind in dem Moment. Wie kann ich meinen Partnern trotzdem ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit geben?
Eine polyamore Beziehung fordert von uns, dass wir uns vielfältigen Unsicherheiten und Ängsten stellen und in einige unserer Abgründe schauen. Außerdem sind wir, wenn wir unsere alternative Beziehungsform offen leben, ständigen Bewertungen von außen ausgesetzt. Da braucht es auch in unserem familiären oder freundschaftlichen Umfeld manchmal einiges an Mut und selbstbewusstem Auftreten.
Da ich eine Verfechterin individueller Beziehungführung bin, trete ich auch im Bereich polyamorer Beziehungen dafür ein, die Beziehungsform, egal welche es ist, an die beteiligten Personen anzupassen, und nicht die Persönlichkeiten, mit ihren ganz individuellen Geschichten, Bedürfnissen, Gegebenheiten und ggf. Traumata in das übergeordnete Regelwerk eines Beziehungsideals (i.S.v. "das ist poly und das nicht") zu pressen.
Dies möchte ich vor allem Menschen ans Herz legen, die nicht aus eigenem Antrieb, sondern aufgrund der Lebensweise oder Vorstellung ihrer Lebenspartner*innen an dieses Konzept herangekommen sind. Beschäftigt Euch selbst mit dem Konzept und schaut, was es Euch zu bieten hat, welche Probleme vielleicht auftauchen können und sprecht mit Euren Partner*innen darüber, was Eure Vorstellungen sind. Lasst Euch nicht erzählen, Ihr müsstet irgendetwas einfach hinnehmen, weil es in einer polyamoren Beziehung "einfach so ist". Polyamorie bedeutet, dass alle Beteiligten an der Gestaltung der Beziehung beteiligt sind und das geht am Besten, wenn alle informiert und sich bewusst darüber sind, was das Konzept für sie bedeutet.
Im Bereich der einvernehmlichen nicht-monogamen Beziehungen ist dies besonders angebracht, da das Thema in der Wissenschaft ziemlich jung ist und valide Untersuchungen darüber, was funktioniert und was nicht, aufgrund geringer Fallzahlen noch sehr rar sind.
Deshalb möchte ich davor warnen, irgendetwas, und sei es von noch so erfahrenen Polys (wie mir ;-)) verfasst, als strikten Leitfaden für die eigene polyamore Beziehung heranzuziehen. Wenn etwas neu für uns ist, nehmen wir sehr gern einen solchen Leitfaden als Anker, um uns daran zu messen, ob wir es „richtig oder falsch“ machen – eben weil wir noch gar keine Ahnung davon haben, wohin uns dieser Weg vielleicht führt. Das kann Ängste nehmen (i.S.v. „die machen es so, also kann es ja nicht falsch sein“) aber auf der anderen Seite kann das auch unglaublich unter Druck setzen. Weder jede monogame Beziehung funktioniert nach den gleichen Prinzipien, noch jede Poly-Beziehung.
Das Glück in einer Beziehung ist immer von den Menschen darin abhängig:
Außerdem spielen natürlich auch die Beziehungen unter den Beteiligten eine Rolle:
Aufgrund dieser Vielzahl an Einflussfaktoren, wird es für keine Beziehung das Patentrezept geben, wie sie funktionieren kann und auch nicht dafür, wie Ihr Eure Probleme innerhalb der Beziehung lösen könnt.
Mittlerweile finden sich eine Reihe von Ratgeber-Büchern und viele Blogs, Podcasts und Tutorials zum Thema Polyamorie:
Leider sind die besten Bücher in diesem Bereich noch nicht auf deutsch erschienen.
Ich kann aber nur jedem*jeder empfehlen, sich einige dieser Bücher zu Gemüte zu führen. Zum einen, weil sie wirklich hilfreiche Tipps von erfahrenen Polys enthalten und zum anderen, weil sie dabei helfen, eine eigene Sicht auf Polyamorie und polyamore Beziehungen zu entwickeln. Das trifft im Übrigen auch auf Foren, Blogs, Podcasts etc. zu.
Einen sehr guten Weg, um sich mit dem Thema vertraut zu machen und vor allem das Leben und die Unterschiedlichkeit polyamorer Beziehungen kennenzulernen, ist auch der persönliche Austausch bei Poly-Stammtischen, die es mittlerweile in vielen Städten gibt.
Gute Blogs, Interviews, Dokumentationen und Artikel zum Thema Polyamorie habe ich meiner Linkliste zusammengestellt.
Schaut einfach immer wieder, ob die vorgeschlagenen Ideen und Handlungsanweisungen auf Euch und Eure Lieben passen. Probiert Problemlösungen aus, aber denkt nicht, dass ihr falsch tickt, wenn etwas nicht funktioniert. Ihr habt dann einfach noch nicht den richtigen Weg für Euch gefunden.
Susann Dietzmann
Systemische Therapeutin (SG) & Dipl.Wirt.Psychologin (Fh)
Bernhardstraße 22a
04315 Leipzig
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